Wenn wir eine wirklich gerechte Gesellschaft schaffen wollen, müssen wir über Freiheiten und Rechte hinausdenken. Eine Einführung in die politische Philosophie von Martha Nussbaum.
Der Aufklärung ist ein Bild des Menschen als unabhängiges, gleichberechtigtes, selbstbestimmtes und vor allem freies Wesen entsprungen und zum Kern des neoliberalen Staates geworden. Dort hat es die Ansprüche an Recht und Gerechtigkeit geformt, die bis heute gelten. Ein Mensch nach dieser Vorstellung benötigt, um sich optimal zu entfalten, keine Unterstützung. Sie* bis er* weiss selber am besten, wie das persönliche Leben zufriedenstellend gestaltet werden kann. Deshalb wird Gerechtigkeit in der neoliberalen Tradition vor allem als Abwesenheit von staatlichen Einschränkungen verstanden.
Feministische Autor*innen haben bald kritisiert, dass das aufklärerische Menschenbild nicht der Realität entspricht. Dass Menschen abhängig voneinander sind, jede Gesellschaft eine pflegende und Pflege erhaltende ist. Aber auch, dass in vielen Bereichen nur privilegierte Menschen der Meinung sein können, Menschen seien gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei.
Es ist folglich offensichtlich, dass eine Rechtsgrundlage, die auf dem neoliberalen Gerechtigkeitsverständnis basiert, und damit die Realitäten grosser Teile der Gesellschaft ausblendet, Menschen nicht effektiv aus Missständen befreien kann (und auch nicht will). Nur weil ich nicht daran gehindert werde, etwas tun zu können, heisst das nicht, dass ich es auch tun kann. Obdachlose Menschen sind frei, sich einen gut bezahlten Job zu suchen. Menschen, die ein Kopftuch oder einen nicht-schweizerischen Namen tragen sind frei, sich um Wohnungen zu bewerben, die ihnen gefallen. Allzu oft beobachten wir in politischen Debatten sogar, wie bestehende Freiheiten dazu benutzt werden, marginalisierte Menschen für ihre Situation verantwortlich zu machen. Es sei das Problem der Frauen*, wenn sie nicht in Führungspositionen vertreten sind. Von Armut betroffene Menschen sollten sich einen besser bezahlten Job suchen, denn die Bewerbung stehe schliesslich allen offen. Das ist besonders zynisch, weil Menschen, die solche Argumente benutzen, meist auch bereitwillig die Freiheiten derer unterstützen, die diese marginalisierten Menschen unterdrücken. Freiheiten, die per Definition Ungerechtigkeiten beinhalten. Die Freiheit von Arbeitgeber*innen oder Hausbesitzer*innen, aufgrund von Geschlecht, Ethnie, sexueller Orientierung oder körperlicher/ geistiger Einschränkungen diskriminierende Auswahlen zu treffen. Die Freiheit von Konzernen, unsere Umwelt für den Profit zu zerstören. Aber eine Gesellschaft, die gewissen Mitgliedern oder Organisationen diese Art von Freiheiten gewährt, macht sich an einer fundamentalen Ungerechtigkeit schuldig und ist damit selbst ungerecht. Wenn in einem neoliberalen Staat von Freiheit die Rede ist, ist damit die Freiheit des Kapitals und derer, die es besitzen, gemeint.
Dem könnten wir nun die Rechte entgegenhalten. Und insbesondere die Menschenrechtsbewegung hat durch ihre unermüdlichen Kämpfe viel an der tatsächlichen Situation von Menschen verbessern können. Rechte haben gegenüber Freiheiten den Vorteil, dass sie es erlauben, gerechtfertigte und dringende Ansprüche zu erheben. «Ich habe das Recht auf...» ist ein sehr kraftvoller Ausdruck. Und doch zeigt Nussbaum auch hier entscheidende Defizite auf. Zuerst einmal sind Rechte in einem neoliberalen Staat eng mit den zuvor beschriebenen Ideen der Freiheit verbunden und weisen ähnliche Übel auf. Auch das Recht schützt zuerst Besitz und Profit, nicht Menschen, die tatsächlich geschützt werden müssten. Und diejenigen Rechte, die sich Menschen hinzu gekämpft haben, müssen immer in Anspruch genommen werden. Die Verantwortung liegt immer noch bei Individuen, sich durch Ressourcen, Mühe und viel Zeit Selbstverständlichkeiten bestätigen zu lassen. Oft mit wenig Effekt. Und oft haben Menschen auch gar nicht die Möglichkeit dazu. Gleichheit an Rechten genügt nicht, um eine gerechte Gesellschaft zu erlangen. Weil Menschen ein Recht nicht erhalten haben, sobald es auf dem Papier steht, sondern erst, wenn sie tatsächlich befähigt sind, es auszuführen. Deshalb dürfen wir von einer Gesellschaft nicht als gerecht denken, solange sie nicht all ihren Mitglieder auch die Fähigkeiten, diese Rechte tatsächlich zu leben, garantiert hat. Wir müssen die Sprache der Rechte mit derjenigen der Fähigkeiten anreichern. Wobei Fähigkeiten das sind, was Menschen tatsächlich imstande sind, zu tun und zu sein.
Es passiert schnell, dass wir uns Freiheiten und vor allem Rechte als Garantien für gerechtere Zustände denken, aber das stimmt nur begrenzt. Und vor allem stimmt es in den grundsätzlichsten Fragen der Gerechtigkeit nicht. Freiheiten und Rechte statten alle Menschen mit der genau gleichen Werkzeugkiste aus, um sich ihr Leben zu gestalten. Dabei brauchen Menschen verschiedene Mengen an Ressourcen (materiellen und immateriellen), um dieselben Fähigkeiten zu erlangen. Nehmen wir ein Beispiel von vorhin. Eine gerechte Gesellschaft müsste, anstatt Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt unter dem Vorbehalt von Freiheiten oder Rechten sich selbst zu überlassen, Strukturen schaffen, die eine chancengleiche Bewerbung effektiv ermöglichen. Dies könnte unter anderem durch einen anonymisierten Bewerbungsprozess geschehen, durch das obligatorische zur Verfügung stellen von Dolmetscher*innen, durch obligatorische Sensibilisierungskurse für Vermieter*innen. Oder nehmen wir ein Beispiel aus den Abstimmungen im September 2020. Die Debatte um den Vaterschaftsurlaub war auf bürgerlicher Seite stark vom Argument geprägt, Väter könnten bereits jetzt ihre Ferientage für die Familie einsetzen. Eine (sowieso nur begrenzt) bestehende Freiheit wird gegen die Schaffung einer neuen Fähigkeit ausgespielt. Durch das Engagement für den Vaterschaftsurlaub konnten Väter schlussendlich doch real befähigt werden, mehr Zeit für ihre Familie zu erhalten, wenn auch noch zu wenig.
Indem eine Gesellschaft die Gleichberechtigung der Menschen wertschätzt und diese als soziales Ziel anstrebt, scheint die Gleichheit der Fähigkeiten die Art von Gleichheit zu sein, nach der sie sich richten sollte. Der entscheidende Vorteil an diesem Ansatz ist, dass er die Verantwortung für Missstände nicht bei einzelnen Menschen, sondern in der Gesamtgesellschaft ansiedelt. Wenn wir gleiche Freiheiten und Rechte als Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung akzeptieren, überlassen wir strukturell benachteiligte Menschen sich selbst. Wenn wir stattdessen nach gleichen Fähigkeiten streben, liegt die Verantwortung im Kollektiv, das niemanden zurücklassen darf. So kann echte Gleichstellung entstehen. Die Garantie von gleichen Fähigkeiten würde vom Staat verlangen, aktiver zu werden. Statt nur Möglichkeiten konkrete Zustände zu schaffen.
Nun sind von unserem neoliberal dominierten Staat keine Quantensprünge in diese Richtung zu erwarten. Unser System lebt davon, dass manche Menschen nicht die gleichen Fähigkeiten, noch nicht einmal die gleichen Möglichkeiten haben. Aber der Fähigkeiten Ansatz kann als Orientierung und Massstab für Projekte in unserem Rahmen und zur Bewertung anderer Projekte dienen. Als Erinnerung, dass wir Rechte stets durch Förderungs- und Unterstützungsmassnahmen ergänzen müssen. Als Sozialist*innen ist es unsere Aufgabe, Organisationen, Räume, Institutionen und Prozesse zu schaffen und zu unterstützen, die Menschen wirklich zu Lebensqualitäten befähigen.
Dies ist die Liste der zehn universellen Grundfähigkeiten, die eine gerechte Gesellschaft nach Martha Nussbaum ihren Mitgliedern garantieren muss. Sie sollen die zentralen Voraussetzungen für ein Leben in Würde darstellen. Die Fähigkeiten sind alle gleich wichtig und können nicht gegeneinander abgewogen werden. Eine Gesellschaft, die diese nicht all ihren Mitgliedern garantiert, kann nicht als gerechte Gesellschaft gelten. Die Liste ist für Ergänzungen offen.
- Leben. Fähigkeit, ein lebenswertes Leben normaler Länge zu führen und nicht frühzeitig sterben zu müssen.
- Körperliche Gesundheit. Fähigkeit, eine gute Gesundheit zu haben, sich ausreichend ernähren zu können und ein Zuhause zu haben.
- Körperliche Unversehrtheit. Fähigkeit, sich frei zu bewegen und vor Gewalt geschützt zu sein, sexuelle und häusliche Gewalt einschliessend. Möglichkeit zur sexuellen Befriedigung und Entscheidungsfreiheit in Reproduktionsfragen.
- Sinneseindrücke, Vorstellungsvermögen und Denken. Fähigkeit, die Sinne zu gebrauchen, sich Dinge vorzustellen, zu denken und erörtern – und das auf eine «wirklich menschliche» Art. Das heisst informiert und durch hochwertige Bildung begünstigt. Fähigkeit, Vorstellungskraft und Denken für das Erleben und Schaffen von Werken und Anlässen nach eigener Wahl zu verwenden; religiös, literarisch, musikalisch usw. Fähigkeit, den eigenen Verstand durch politische und künstlerische Freiheiten geschützt zu gebrauchen. Fähigkeit, vergnügliche Erlebnisse zu haben und nicht förderlichem oder nicht erwünschtem Schmerz zu entgehen.
- Emotionen. Fähigkeit, mit Dingen und Personen verbunden zu sein. Diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen und in ihrer Abwesenheit zu trauern. Generell zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und gerechtfertigte Wut zu verspüren. Eine emotionale Entwicklung zu durchleben, die nicht von Angst und Sorge getrübt ist.
- Praktische Vernunft. Fähigkeit, eine eigene Vorstellung des Guten zu formen und sich kritisch mit der eigenen Lebensplanung auseinanderzusetzen.
- Verbundenheit. A) Fähigkeit, zusammen und im Austausch mit anderen zu leben, ihnen gegenüber Achtung zu empfinden und zu zeigen, sich an verschiedenen Formen sozialer Interaktion zu beteiligen; sich ein Bild von anderen Lebensumständen zu machen. B) Bestehen einer sozialen Basis für Selbstrespekt und nicht-Demütigung; Fähigkeit, als ein würdevolles Wesen behandelt zu werden, dessen Wert gleich zu dem aller anderen ist. Dies beinhaltet Massnahmen gegen Diskriminierung aufgrund von Ethnie, Geschlecht, sexueller Orientierung, Kaste, Religion und nationaler Abstammung.
- Andere Spezies. Fähigkeit, in rücksichtvoller Beziehung zu Tieren, Pflanzen und Natur zu leben.
- Spiel. Fähigkeit, zu lachen, zu spielen, soziale und erholsame Aktivitäten zu geniessen.
- Kontrolle über die eigene Umwelt. A) Im politischen Sinn. Fähigkeit, im eigenen sozialen Kontext effektiv an politischen Entscheidungen teilzuhaben. Recht auf politische Partizipation, Schutz der freien Meinungsäusserung und Vereinigung. B) Im materiellen Sinn. Fähigkeit, in gleichem Masse wie andere Eigentumsrechte zu haben, sich gleichberechtigt mit anderen um Arbeit zu bewerben, frei von unbefugter Durchsuchung und Beschlagnahmung sein. Die Fähigkeit, eine Arbeit ausüben zu können, die der menschlichen Art gerecht wird. Bei der wir praktische Vernunft anwenden und gegenseitig anerkennende Beziehungen zu anderen Arbeiter*innen eingehen können.
Geschrieben von Laura Fischer, Vorstand JUSO Zürich Unterland
Referenzen:
Nussbaum, Martha (2003): Capabilities as Fundamental Entitlements: Sen and Social Justice, Feminist Economics 9:2-3.