Die Frau*, die das entscheidende Puzzleteil beim Sturz eines Diktators werden kann

08.01.2021

Das Jahr 2020 könnte für Belarus die langersehnte Überwindung der Diktatur Lukaschenkas mit sich bringen. In Belarus wurden im August dieses Jahres Präsidentschaftswahlen durchgeführt, die offensichtlich nicht nach demokratischen Standards verliefen.

Kandidat*innen der Opposition wurden an der Teilnahme gehindert: Sjarhej Zichanouski und Mikola Statkiewicz wurden verhaftet. Gegen Viktar Barbaryka wurde ein Strafverfahren wegen angeblicher Geldwäsche eröffnet. Valery Zepkalas eingereichte Unterschriften für die Zulassung zur Wahl wurden nicht anerkannt.

Aufgrund dieser Ereignisse hatte sich als einzige oppositionelle Kandidatin Sjarhej Zichanouskis Ehefrau, Svetlana Zichanouskaja, zur Wahl gestellt, die von sich sagt, dass sie nie in die Politik wollte. Die Wahlkomitees von Babaryka, Zepkalas und Zichanouski beschlossen, die Kandidatin gemeinsam zu unterstützen. Es bildete sich ein Frauen*trio, das den Kampf gegen Lukaschenko antrat.

Bereits am Tag der Wahlen zeichnete sich der Betrug ab. Eine Frau* wurde dabei gefilmt, wie sie mit einer Tüte voller Papier aus dem Fenster eines Wahllokals steigt. Die Wahllokale arbeiteten absichtlich langsam und schlossen, bevor die wartenden Wähler*innen ihre Stimme abgeben konnten. Der Sieg Lukaschenkos mit 80% der Stimmen wurde daraufhin ausgerufen, obwohl Svetlana als Gewinnerin erwartet worden war.

Die Nacht vom 9. auf den 10. August markierte den Beginn einer riesigen Protestwelle, die anfangs von Polizei und Militär blutig niedergeschlagen wurde. Die Regierung schaltete das Internet teilweise ab, um die Kommunikation der Aktivist*innen untereinander zu erschweren. Um das Volk zum Schweigen zu bringen, wurden in den nächsten Tagen insgesamt 12’000 Menschen verhaftet, ein Mann wurde mitten auf der Strasse erschossen. Bis heute werden rund 80 Menschen vermisst.

Politische Gefangene werden in Belarus brutal gefoltert. Die Menschen wissen nicht, wann oder ob sie aus der Haft entlassen werden. Nach der Entlassung brauchen viele medizinische und psychiatrische Behandlung.

Am Montagmorgen nach den Wahlen focht Zichanouskaja offiziell das Wahlresultat an. Daraufhin war der Kontakt zu ihr für mehrere Stunden unterbrochen. Am nächsten Tag wurde ein Video veröffentlicht, indem sie verängstigt einen Zettel vorliest und die Bevölkerung bittet, mit den Protesten aufzuhören. Kurz darauf floh sie nach Litauen.

Das Volk protestierte trotzdem weiter. Da in der ersten Phase der Proteste hauptsächlich nunmehr erschöpfte Männer* eine entscheidende Rolle gespielt hatten, gingen am folgenden Mittwochmorgen die Frauen* auf die Strassen. Komplett in weiss gekleidet steckten sie den Soldaten und Polizisten als Zeichen des Friedens weisse Blumen an die Uniform. Die Proteste der Frauen* wurden zunächst nicht unterdrückt.

Am selben Tag tauchte ein Video auf, in dem auf die Verkündung Lukaschenkos Sieges hin in einer Chemiefabrik ein Arbeiter aufstand und rief: «Wer Zichanouskaja gewählt hat, soll aufstehen!» Daraufhin standen alle Anwesenden auf und jubelten. Solche und ähnliche Videos häuften sich in den darauffolgenden Tagen. Immer mehr Fabriken schlossen sich dem Protest an.

Am 14.8 meldete sich Zichanouskaja über YouTube zurück und forderte die Menschen zu friedlichen Protesten auf.

Am 17.8 hielt Lukaschenko in einer staatlichen Traktorfabrik eine Rede. Da die Arbeiter* innen vom Staat gut entlöhnt werden, hoffte er auf Verbündete unter ihnen. Während er redete, schrien ihn die Arbeiter*innen an und beschimpften ihn, bis er wütend die Bühne verliess.

Nach etwas mehr als einer Woche von Protesten schien sich die Lage zu stabilisieren. Die meisten Verhafteten wurden freigelassen, das Militär und die Polizei zogen sich zurück. In den folgenden beiden Monaten wurde jeden Tag friedlich demonstriert. Seit Anfang Oktober gehen jedoch die Verhaftungen wieder los und die Brutalität nimmt das Ausmass vom Anfang der Proteste an.

Am 10. Oktober besuchte Lukaschenko das Untersuchungsgefängnis des KGBs, um mit den gefangenen Oppositionspolitiker*innen über eine Änderung der Verfassung zu verhandeln. Die freien Akteur*innen wurden ebenfalls eingeladen, lehnten ein Gespräch aber ab. Zichanouskaja setzte daraufhin Lukaschenko mit dem 25. Oktober ein Ultimatum für seinen Rücktritt, die Freilassung aller Gefangenen und das Ende der Brutalität auf der Strasse. Ansonsten werde sie die Bevölkerung zu einem Generalstreik aufrufen: Alle Fabriken würden streiken, alle Strassen würden gesperrt und die staatlichen Geschäfte hätten nichts, was sie verkaufen könnten. Ebenfalls hat die Bevölkerung 13 Tage Zeit, um ein nationales Ultimatum auszuarbeiten. Auch am vergangenen Wochenende gingen die Menschen wieder protestieren, obwohl Lukaschenko mit dem Einsatz von tödlichen Schusswaffen drohte und dies noch immer tut.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Journalist*innen und Aktivist*innen bedanken, die ihre Freiheit riskieren, damit andere sie erlangen.

Text von Florentyna Koscinska