Unbekannte Aktivist*innen hinterliessen im Eingang des Kantonalen Sozialamts ein Statement. “Lilienberg: Kinderrechte nicht mit Füssen treten - Solidarität mit allen Geflüchteten.” Dazu plakatieren sie die UN-Kinderrechtskonvention in der Umgebung.
Die JUSO Kanton Zürich unterstützt diesen Protest.
Das Zentrum Lilienberg in Affoltern am Albis ist eine Kollektivunterkunft für unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Die meisten Bewohner*innen haben gefährliche Fluchtrouten hinter sich, viele von ihnen haben zutiefst traumatisierende Situationen erleben müssen. Sie mussten mitansehen, wie Familienmitglieder getötet wurden, erlebten Gewalt, Missbrauch und haben Todesängste durchlitten.
Sie brauchen dementsprechend einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen können und professionell betreut werden. Einen Ort, an dem ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Traumata zu verarbeiten. All dies ist im Lilienberg, wie Recherchen von “das Lamm” kürzlich aufgedeckt haben, nicht der Fall. Die Jugendlichen fühlen sich laut ehemaligen Mitarbeitenden wie in einem Gefängnis, sie sprechen von einem “Camp”, wie sie es zum Beispiel von den EU-Aussengrenzen kennen. Integration und Austausch mit Gleichaltrigen aus der Umgebung des Zentrums ist nicht möglich.
Im Lilienberg kommt es auch zu regelmässigen Polizeieinsätzen. Diese dienen als Abschreckungsmittel, da oftmals kein Strafbestand vorliege, es gehe darum, Menschen in Uniform im Haus zu haben. Das führte laut den Aussagen der ehemaligen Mitarbeitenden zur Retraumatisierung von Jugendlichen, die uniformierten Männer aufgrund ihrer Fluchterfahrungen mit Schlägen und Folter assoziieren.
Ein ehemaliger Bewohner sagt: „Ich habe mich während all der Jahre auf dem Weg in die Schweiz nie so unsicher gefühlt wie im Lilienberg.“
Im Lilienberg sind aktuell etwa 90 Jugendliche in 35 Zimmern untergebracht, für die, laut ehemaligen Mitarbeitenden, nicht einmal zehn ausgebildete Sozialpädagog*innen angestellt sind, von denen niemand Vollzeit arbeite. Hinzu kämen etwa gleich viele Betreuungspersonen ohne fachrelevante Ausbildung. Das sei klar zu wenig. Die physische und psychische Gesundheit der Mitarbeitenden und der Jugendlichen sei akut gefährdet.
Die Mitarbeitenden sind heillos überlastet, um eine Mindestmass an Betreuung zu gewährleisten, müssen sie regelmässig über ihre eigenen Grenzen hinausgehen. Die Betreuungspersonen dürften laut der Schweizer Pflegekinderverordnung (PAVO) auch höchstens für vier Heimbewohner*innen zuständig sein, im Lilienberg waren es laut Aussagen von ehemaligen Mitarbeitenden oft bis zu zehn. Unter diesen Umständen kann keine vertrauensvolle Beziehung zu der Betreuungsperson aufgebaut werden und nicht auf die besonderen Bedürfnisse der Jugendlichen eingegangen werden.
Ein*e ehemalige Mitarbeiter*in beschrieb es so: “Die Betreuungssituation auf dem Lilienberg ist so prekär, dass sich ein Jugendlicher etwas antun könnte und es wahrscheinlich eine Weile dauern würde, bis es irgendjemand merkt.”
Nach Aussagen von ehemaligen Mitarbeitenden versuche das Zentrum Lilienberg diese Missstände aktiv zu verdecken. So führte im August 21 eine private Firma, im Auftrag des kantonalen Sozialamtes ein Audit (Audit bezeichnet die Prüfung von Prozessen, Aktivitäten, Ergebnissen oder eines internen Kontrollsystems (IKS). Bei der Prüfung geht es um die Erfüllung bzw. Einhaltung von definierten Anforderungen, Normen oder Standards) im Lilienberg durch. Der Besuch wurde im Vorhinein angekündigt und im Lilienberg wurden offenbar eifrig Vorbereitungen getroffen. Das Zentrum sei spezifisch für diesen Besuch mehrere Tage lang intensiv gereinigt worden, Angebote wie ein Jugendlichenrat oder Veloausflüge, die nichts mit der alltäglichen Realität des Zentrums zu tun hatten, wurden am Tag des Audits in Szene gesetzt. Auch die Gesprächspartner*innen der Prüfer*innen wurden im vorhinein ausgewählt und auf die Gespräche vorbereitet, spontane Kontakte konnten also nicht hergestellt werden.
Für die Mitarbeitenden war klar: Eine einzige Show. Dasselbe galt auch für die Sozialberichte, die über die jugendlichen verfasst werden mussten. Die Berichte mussten neu über die Leitung gehen, und bestimmte Begriffe wie “Mobbing” oder “Verwahrlosung”, durften, auch wenn sie auf die Situation zutrafen, nicht mehr verwendet werden. Ausserdem seien Mitarbeitende die strukturelle Probleme anprangerten und Veränderungen forderten unter Druck gesetzt worden und ihnen wurde deutlich gemacht das solche Kritik nicht erwünscht sei.
Verantwortlich für diese Situation sind das kantonale Sozialamt und die AOZ. Der Auftrag für den Betrieb der MNA-Strukturen, darunter das Zentrum Lilienberg wurde 2018 ausgeschrieben und die AOZ war die alleinige Bewerberin. Die mutmasslich prekäre Betreuungssituation im Zentrum deutet darauf hin, dass die Offerte des AOZ preislich viel zu tief angesetzt und nicht auf eine volle Auslastung ausgerichtet war. Dementsprechend kann mit den aktuellen Entschädigungen auch keine situationsgerechte Betreuung gewährleistet werden.
Auch abseits des Betreuungsschlüssels erfüllt Lilienberg die Standards der PAVO nicht, und das obwohl im Angesicht der Verwundbarkeit der Jugendlichen Standards für Betreuung und Unterbringung nötig wären, die über die PAVO hinausgehen.
So müssen laut PAVO Doppelzimmer mindestens 13.5 Quadratmeter gross sein, ausserdem ist laut der Verordnung “Besonderen Bedürfnissen der Leistungsbeziehenden mit grösserer Fläche Rechnung zu tragen”. Für vier Bewohner*innen braucht es jeweils ein WC, ein Lavabo und eine Dusche. Im Lilienberg sind die Doppelzimmer, laut ehemaligen Mitarbeitenden zwischen 9.5 und 13 Quadratmeter gross und auf einem Stockwerk teilen sich 34 Personen drei Duschen.
Das absurde an der Situation? Die Missachtung der Standards ist nicht rechtswidrig. Denn die Asylsuchenden, werden einmal mehr rechtlich benachteiligt. Die PAVO muss laut kantonaler Gesetzgebung nicht auf Kinder- und Jugendheime für minderjährige Geflüchtete angewandt werden und für den Asylbereich existieren keine vergleichbaren Mindeststandards.
Das muss sich ändern! Die Betreuung der Jugendlichen muss mit der Kinderrechtskonvention und den Grundsätzen zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger des UNHCR übereinstimmen. Es braucht sofort mehr und besser geschultes Personal und weitere Unterkünfte. Es müssen Mindeststandards gelten, die weite über die PAVO hinausgehen und diese müssen regelmässig und unangekündigt überprüft werden.
Das MNA-Zentrum Lilienberg muss zu einem Ort werden, an welchem sich die Jugendlichen zuhause und sicher fühlen können. Ein Ort an welchem sie Zeit, Ruhe und Raum haben, um ihre Traumata zu verarbeiten. Ein Ort, an welchem sie vertrauensvolle Beziehungen zu Erwachsenen aufbauen können. Ein Ort, welcher auf das Wohl des Kindes ausgerichtet ist.