Überall ist Taksim - Überall ist Widerstand! Unser Genosse Seyhan Kâhya war Mitte Juni in Istanbul bei den Protesten auf dem bereits legendären Taksim-Platz. Sein Erlebnisbericht schildert nicht nur eine hierzulande ungekannt brachiale Polizeigewalt, sondern zeigt uns als schweizerische Linke auch, wie die Not und Unterdrückung Menschen vereinen kann, um gemeinsam für ein besseres Morgen zu kämpfen.
Seit geraumer Zeit ist die Türkei geprägt von moralischer Bigotterie, Privatisierungen, Repression, Klientelismus und politische Schickane von Minderheiten. Seit über einem Jahrzehnt boxt sie eine islamisch motivierte Gesetzesreform nach der anderen durch. Während Ramadan sollen Restaurants draussen nichts anbieten dürfen, sich in der Metrostation Küssende werden per Lautsprecher zur Moral gebeten und dann noch das nächtliche Verkaufsverbot für Alkohol.
Das Militär als oberstes Staatsoberhaupt, das bis jetzt intervenierte, wenn der kemalistische Staat in Gefahr war, wurde abgesetzt. Man mag den Schritt als DemokratIn begrüssen, jedoch hinsichtlich Interesse und Idee der AKP bot sie eine Schutzfunktion.
Zu guter Letzt sollte die öffentliche Grünfläche des Gezi-Parks privatisiert werden und einem Einkaufszentrum weichen; so ein Beschluss des Istanbuler Grossstadtparlaments, der einen Anteil von 69% an AKP-Sitzen aufweist.
Bereits Mitte April protestierten eine Handvoll Leute friedlich mit Sitzblockaden und Konzertne gegen den Abriss des Parkes. Als nach zwei Wochen die ersten Baumaschinen anfuhren, zeigten die Demonstranten durch weitere Sitzblockaden ihren Protest. Als am 31. Mai die Polizei mit Pfefferspray und Wasserwerfern in die friedliche Masse hineinstürzte, entzündete sie den Funken der Revolution.
Die Bilder mit der "Frau im roten Kleid" sind nun jedem bekannt: Sie entfachten ein Feuer über die Landesgrenzen der Türkei hinaus. In über 90 Städten alleine in der Türkei solidarisierten sich hunderttausende DemonstrantInnen. Parolen wie "Her Yer Taksim - Her Yer Direniş" (Überall ist Taksim - Überall ist Widerstand) oder "Diren Gezi Parkı" (Widerstehe, Gezi-Park) wurden auf Transparente und Wände geschrieben, von Social Media Usern verbreitet.
Doch genau da lag das Problem: Während bereits internationale Nachrichtenkanäle von den Ereignissen berichteten, zeigte bspw. CNN Türk einen Dokumentarfilm über Pinguine. Die ersten wesentlichen Erwähnungen folgten Tage später: Pinguine wurden dabei zu einem Symbol der Feigheit der Medien. Seit diesem Frühling verfügt der türkische Ministerpräsident, Recep Tayyip Erdoğan, Zensurbefugnisse über die türkischen Medien.
Auf die folgenden Proteste ab dem 1. Juni wurden alleine in Istanbul über eine Million Teilnehmende verzeichnet. Gefordert wurde der Rücktritt der Regierung und AKP. Die Gewalt der Polizei durch Einsatz von Wasserwerfern, Knall- und Gasgranaten, Gummischrot und Knüppeln die Versammlungen aufzulösen, führte zur Solidarisierung von noch mehr Leuten. Barrikaden wurden errichtet, der Kampf auf der Strasse setze sich fort. Eigentlich war der Kampf eine notwendige Verteidigung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Denn jedes Mal, wenn die Polizei eine Demonstration auflösen wollte, steigerten sie den Widerstand. Neben Beleidigungen und Äusserungen wie "Ihr seid Armenier" oder "Wir sind nicht eure Polizei!" setzte die Polizei auf brachiale Gewalt. Aufnahmen aus Balkonen Nähe der Ausschreitungen haltet das Verhalten der Polizei fest. Beleidigungen, minutenlanges Knüppeln und Fusstritte auf am Boden liegende, Platzwunden durch Abfeuern der Gasgranten auf Kopfhöhe und der Einsatz von Wasserwerfern forderten Tausende verletzte. Seit beginn der Proteste sind drei Demonstranten gestorben: Mehmet Ayvalıtaş wurde durch ein die Masse rasendes Fahrzeug erfasst, Abdullah Can Cömert wurde durch eine Gasgranate am Kopf tödlich verletzt und Ethem Sarısülük wurde in Ankara von einem Polizisten, der seine Pistole auf ihn richtete auf nächster Distanz erschossen. Der Mord an Ethem wurde auf einem Video erfasst. Seine Beerdigung wurde seitens der Polizei mit Wasserwerfern gestört und es wurden Trauernde festgenommen. Aller Pietätslosigkeit obendrauf wurde der gefasste Polizist freigesprochen: Der Polizist habe in Notwehr gehandelt und wollte in die Luft schiessen. Die Kameraaufnahmen zeigen das Gegenteil. Dieser Polizist rannte in die Menschenmenge um einen auf den Boden liegenden Demonstranten zu traktieren. Als Menschen dies zu verhindern versuchten, schoss der Polizist mit scharfer Munition zwei Mal in die Luft und einmal auf die Menschenmenge. Jemand sackte dabei plötzlich ein.
Diese Polizei wurde von Erdogan gelobt: «Unsere Polizei hat einen sehr wichtigen, sehr schwierigen Demokratietest erfolgreich bestanden». Sie hätten bei den seit mehr als drei Wochen andauernden Protesten «geduldig und gemässigt» gehandelt. Seit beginn der Ausschreitungen haben ein Duzend Polizisten Suizid begangen.
Es folgten tagelange Ausschreitungen.
Von allen Ereignissen gerissen, habe ich nicht gezögert und für die erste Gelegenheit den Flug nach Istanbul gebucht. Am Abend jenen Dienstages, 11. Juni, als auf dem Taksim-Platz Demonstranten von den Barrikaden in den Gezi-Park zurückgedrängt wurden, kam ich an. Auf die Nachricht, dass ich angekommen bin, entgegnete meine Cousine in einer Frage, ob ich eine Gasmaske habe. Auf die abschlägige Antwort erhielt prompt eine SMS, dass ich mir sofort eine besorgen solle.
Ich verstand dies erst, als ich mich Richtung Taksim-Platz bewegte. Einige Kilometer davor hallte bereits der Lärm der Knallgranaten und Augen und Lunge spürten den Effekt der Gasgranaten. Es war bislang einer der heftigsten Angriffe der Istanbuler Polizei. Vordringen verstand sich als unmöglich, ich blieb in der Nähe des Galataturm, 2km vom Taksim-Platz entfernt, und sprach mit von der Istiklal-Strasse her fliehenden Demonstranten.
Menschen jung bis alt waren aufgebracht. Touristen schockiert. Sie konnten kaum glauben, mit welcher Brutalität gegen campierende Demonstranten vorgegangen wurde. "Sie wollen uns massakrieren!", wurde mir mitgeteilt. Es spricht sich herum, dass in der Türkei in den letzten 6 Tagen mehr Gasgranaten eingesetzt wurden als in 14 EU-Staaten in 2 Jahren. Die derbe Polizeigewalt trieb noch mehr Leute auf die Strasse.
Am nächsten Morgen stand ich da - vor dem Park:
Jene Baumaschinen, die den Park plattmachen sollten, sind von den Demonstranten übernommen worden und standen vor dem Park ausgestellt, betitelt mit "Widerstandsmuseum". Letzte Barrikaden standen auf dem Taksim-Platz, die Polizeifahrzeuge ausser Reichweite des Parkes halten sollte.
Graffiti und Kunst mit teils humorvollem Inhalt und Banner der Organisationen färben und prägen die Umgebung.
Dann im Park: Gelebte Solidarität in der Gezi-Kommune.
Der besetzte Gezi-Park war in Zeltsiedlungen organisiert. Die "Taksim Solidaritätsplattform" war die zentrale Koordinationsstelle und der Zusammenhalt der Kommune. Sie koordinierte die Versorgung des Parkes mit Nahrungsmittel, Wasser, aber auch Bauhelme und Schutzmasken. Im Zentrum des Parkes stand ein 'Erste Hilfe' Bereich. An jeder Ecke stand ein Eimer voll Wasser, um allfällige Gasgranaten abzulöschen. An vielen Orten wurde ein Wasser-Talcid-Gemisch verteilt. Talcid, ein Medikament gegen Sodbrennen, hilft auch gegen Augenbrennen.
Um die Zelte der Organisationen und Vereine wurden Bücher und Zeitschriften verkauft, Workshops angeboten. Zum Beispiel "gender-gerechtes Fluchen" gehalten von der feministischen Plattform. Bäckereien solidarisierten sich mit dem Park, in dem sie Schachteln voll mit Brot verteilten; kritische Zeitungen setzten einen Internet Live-Stream auf; aus Backsteine wurden Bibliotheken gebaut und gestaltet.
Organisationen, die sich kurz vor den Ereignissen bekämpften, hielten hinter gleichen Barrikaden Wache. Um die Zelte der Organisationen herum werden Workshops angeboten, Bücher oder Zeitschriften verkauft oder bei einem Tee rege diskutiert.
Fangruppen Istanbuler Fussballclubs, die sich einst verprügelten, solidarisierten sich gemeinsam für den Widerstand. Ganz vorne war "Çarşı,", die Fangruppe von Beşiktaş. Als im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş die Polizei mit einem Wasserwerfer aufkam, hat Çarşı mit einem Bagger den Wasserwerfer aus dem Stadtteil gejagt.
Jeder, der zur Regierung kritisch steht, hat seinen Platz im Park: Gewerkschaften, Sozialisten, Anarchisten, Nationalisten, Revolutionäre, Fussballfans, LGBT, Feministinnen; die Liste liesse sich ellenlang weiterführen.
Kurz: Der Park wurde zum Treffpunkt des Widerstandes und der Solidarität. Wer dort war, ging seine Rechte verteidigen. Jeder war bereit sich zu helfen, wo nötig.
Am Abend kam die Nachricht, Erdogan möchte darüber abstimmen lassen, ob der Park ein Park bleiben darf. Er sprach immer noch von Bäumen, während dem es seit langem um mehr geht.
Man organisierte in allen Zeltsiedlungen Vollversammlungen und kam auf den Konsens zu bleiben. Hundertschaften, Wasserwerfer und weitere gepanzerte Fahrzeuge sperrten den Platz ab. Die Polizei wartete auf den Befehl einzuschreiten.
Am letzten Abend meines Aufenthaltes, am 15. Juni, verabschiedete ich mich von Genossinnen und Genossen. Dabei habe ich meine Schutzausrüstung einem Genossen gegeben, der keine hatte.
Kurz bevor ich mich zur Busstation machte detonierten Knallgranaten. Es sollte die Leute verängstigen. Denkt man daran, was für Folgen eine Massenpanik haben kann, fragt man sich, was eigentlich das Ziel der Polizei war.
Wenige Sekunden später flogen Gasgranaten mitten in die Menschenmenge. Sofort schnellten Hände in die Luft und man rief "Keine Panik!". Die Leute liefen ruhig weg vom Platz, wo sich die Granaten befanden. Wer Masken hatte, setzte sie auf, anderen ging es miserabel. Trotz Tränen, Schnodder und Atembeschwerden schrien wir mit aller Kraft die Parole: "Das war erst der Anfang - jetzt folgt der Kampf." Die Atmosphäre war atemberaubender als das Gas!
Auch die Organisation war beeindruckend: Sofort eilten Leute mit professionellen Gasmasken und Handschuhen und löschten die Granaten aus. Dennoch litten wir darunter. Auch dagegen wurden Leute organisiert, ebenfalls mit professioneller Ausrüstung, die jenen, die hilflos da standen halfen, indem sie die Augen, Nasen und Mund mit Talcidwasser wuschen. Organisationen stellten sich hinter die Barrikaden auf und versuchten das Eindringen der Polizei zu verhindern. Diesmal erfolglos, auch wenn Tausende aus allen Stadtteilen Istanbuls zum Taksim-Platz strömten. Die Polizei hat über Nacht Zelte verbrannt, den Protest zerschlagen und die Solidarität auf die Probe gestellt. Nun läuft die Revolte in andern Pärken in Istanbul. Auch in zahlreichen anderen Städten dauern intensive Proteste an.
Selbst wenn die Proteste mittlerweile am Abnehmen sind, haben sie sehr vieles erreicht: Klassenbewusstsein, Solidarität und die Kraft der Masse.
Den Leuten ist bewusst, dass nur durch das Abtreten Erdogans sich kaum etwas ändert. Der sog. ‚einfache Bürger' zeigte Verständnis mit den Revolutionären. Ein Bruch des Systems und die historische Aufarbeitung letzter Jahrzehnte ist eine Notwendigkeit. Wie viele Alewiten spürten auch Armenier, Juden, Kurden, politische Aktivisten, Journalisten, Gewerkschafter oft eine tödliche Gewalt und die Täter wurden oft zu allem Hohn der Opfer vom Staat (wenn die Staatsgewalt einmal nicht selber der Täter war) freigesprochen.
Was können wir daraus lernen?
Mein Aufenthalt bereicherte wesentlich in einem Punkt: Solidarität. Die Proteste hatten keine bestimmte Avantgarde, die die Revolution führte. Es war ein Konglomerat breitesten Spektrums für eine fortschrittliche Wende.
Wenn wir in der Schweiz auch einen Fortschritt erkämpfen wollen, müssen wir über die Parteigrenzen hinaus denken. Wir müssen uns mit allen anderen Gruppierungen für unsere Ziele organisieren. Unterstützen wir uns wo wir können und hindern uns nicht gegenseitig, wo wir nicht dieselbe Ansicht haben. Es braucht eine breite, zusammenhaltende, geballte Linke gegen den bürgerlichen Staat und neoliberalen Kräfte. Denn "überall ist Taksim - überall ist Widerstand".
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Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist eine islamisch Geprägte und neoliberale Partei. In den Parlamentswahlen von 2007 verfügte sie 46% Stimmenanteil. Durch das Scheitern zahlreicher Parteien an der 10%-Wahlhürde errang sie im Parlament das absolute Mehr. Der AKP gehört auch der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan an.