Die Situation von Asylsuchenden in Unterkünften
Mit geschlossenen Augen, die Hand auf die schwere Eisentür gelegt, hält sie einen Moment inne. Mit Beklemmung denkt sie an ihre Hilflosigkeit zurück, als sie im Lebensmittelgeschäft der Verkäuferin ihre Hand entgegenstreckte und die wenigen klirrenden Münzen entblösste. «Wir nehmen nur noch Kreditkarten» hiess es[1], «wegen der Infektionsgefahr». Ihre drückende Beschämung war beinahe greifbar, der mitleidige Blick der Verkäuferin brannte sich einmal mehr in ihr Gedächtnis ein. Also liess sie ihr Tagesgeld wieder in die Jackentasche fallen und machte sich verzweifelt auf den Nachhauseweg. Es gibt kein anderes Lebensmittelgeschäft in ihrer Gemeinde. Die Eingrenzung verunmöglicht ihr, im Migros im Nachbardorf einzukaufen[2]. Und nun steht sie da und überlegt, wie sie in den nächsten Tagen ihren kleinen Sohn ernähren soll. Sie drückt mit aller Kraft gegen das dunkle Tor des Bunkers. Feuchte, stickige Luft schlägt ihr entgegen[3]. Menschen stossen sich umher, hetzen von einer Tür zur anderen. Das grelle Lampenlicht der fensterlosen Gänge[4] blendet sie. Sie schliesst die Tür hinter sich. Es quietscht. Der Spalt, durch den sich nachts eisige Biesen schlängeln und unter die dünnen Decken der Bewohner*innen kriechen, bleibt offen. Sie kämpft sich durch das Gedränge bis zum Infobüro und klopft zweimal an das helle Holzfenster. Nach kurzem Warten streckt der Angestellte genervt den Kopf durch die Öffnung. Sie kratzt die wenigen deutschen Wörter, die sie beherrscht, zusammen und fleht ihn an, ihr das Tagesgeld wöchentlich[5] auszuzahlen. Sie wolle sich nicht jeden Tag aufs Neue der Gefahr des Virus aussetzen. Mit Tränen in den Augen denkt sie an ihren Mann, dessen Gesundheitszustand[6] sich seit der letzten willkürlichen Verhaftung[7] noch verschlechtert hat. Gleichgültigkeit blickt ihr aus dem Augenpaar ihres Gegenübers ins Gesicht. «Der Kanton lässt das nicht zu. Kommen Sie morgen wieder, dann erhalten Sie die 8.50, wenn Sie sich heute Abend in die Liste einschreiben.» Sie lässt die Schultern hängen. Verzweifelt sucht sie das Zentrum nach Desinfektionsmittel ab, aber seit dem Ausbruch der Krankheit wurde nie welches zur Verfügung gestellt[8]. Als sie vor knapp einer Woche von der Aufsicht über die Krankheit informiert wurden, wussten die meisten ihrer Zimmergenoss*innen noch nichts von deren Ausbreitung[9]. Nachdem die Informationen bekanntgegeben worden waren, brach verängstigte Hektik aus, sie riss ihren kleinen Sohn an sich und zerdrückte ihn beinahe. Er begann zu schreien und klammerte sich an seiner Mutter fest. Anlass für die Aufklärung war die ihre positiv getestete Zimmernachbarin gewesen. Einige Stunden nach ihrem Arztbesuch stand sie wieder unter der Tür[10]. Nun darf ihre Familie das winzige Zimmer nicht mehr verlassen und vor dem Bunker wurde für sie ein eigener WC-Container aufgestellt – doch um dahin zu gelangen, muss die Familie das ganze Zentrum durchqueren[11].
Der Gedanke daran lässt sie erschaudern. Sie läuft ins Bad, wo bereits ein Dutzend Menschen anstehen, um sich das Gesicht zu waschen. Vom Fussboden schleicht sich grauer Schimmel der Wand entlang bis zur Decke[12]. Als sie endlich die stählernen Waschbecken erreicht, tropft aus dem Seifenspender nur grünliches Wasser. Sie schrubbt sich die Hände mit heissem Wasser, bis ihre Haut rot anläuft und zu jucken beginnt. Sie dreht den lottrigen Wasserhahn zu und begibt sich in ihr Zimmer. Vierzehn der achtzehn Betten[13] sind besetzt. Die meisten Menschen sitzen auf zerschlissenen Decken und hören Musik. Einige starren an die Wand, andere kauen an ihren Fingernägeln herum. Mohamed[14], der im Bett über ihr schläft, kratzt sich am Rücken. Sie sieht ihn traurig an, doch er hebt seinen Kopf nicht. Sie kennt Mohamed nun seit fast einem Jahr. Er wohnt seit Ewigkeiten hier. Vor einigen Monaten versuchte er, sich das Leben zu nehmen[15]. Sein Rücken ist übersäht von offenen Wunden, verursacht von seinen Fingernägeln. Er sass 44 Tage im Gefängnis, weil er auf offener Strasse für seinen Aufenthaltsstatus gebüsst wurde und die tausendfünfhundert Franken Busse nicht bezahlen konnte. Nachts hört sie, wie er aus dem Zentrum stürmt. Er hat ihr erzählt, dass er im Wald betet. Seine Familie hat er seit Langem aus den Augen verloren, also betet für seine drei Kinder, seine Frau. Er betet dafür, bald aus dieser Unterkunft befreit zu werden und dafür, sich ein Leben aufbauen zu können.
Sie lässt ihren Blick über die zusammengepferchten Mettalgestellte schweifen. Ihr Kind sitzt ganz hinten an der Wand und spielt mit einer abgewetzten Socke. Weil sie ihren Ehemann nicht finden kann, eilt sie in die Küche, die sie mit achtzig Bewohner*innen teilt[16]. Da steht er, zusammen mit zwanzig anderen Hungrigen. Wie sie hier Abstand halten sollen, ist ihr ein Rätsel. Als er sich umdreht, blickt er sie erwartungsvoll an. Sie streckt die leeren Hände aus. Er erzählt ihr, dass ihm die Bewilligung für seinen Arztbesuch verweigert wurde[17]. Sie fragt ihn, ob heute schon die Polizei da gewesen sei. Kaum ist ihr das Wort über die Lippen gekrochen, zucken beide zusammen. Seit sie hochschwanger vier Monate im Flughafengefängnis und erneut zwei Wochen mit ihrem neugeborenen Sohn in einer kleinen Zelle verbringen[18] musste, ohne dass ihr Mann wusste, was um seine Familie geschehen war, schreckt sie nachts panisch und schweissgebadet hoch[19]. Das Geräusch von Sirenen oder der Anblick von Uniformen lässt ihr Kind in herzzerreissendes Geschrei ausbrechen[20]. Manchmal träumt er nachts schlecht. Dann greifen die anderen Mitbewohner*innen ihren Sohn an, weil sie die schmerzvollen Klänge nicht aushalten können[21]. Sie wollte mit ihrer Familie das Zimmer wechseln – vergeblich.
Ihr Mann entwirrt den improvisierten Metalldrahtverschluss der Toastverpackung und kramt die letzten drei Scheiben aus dem Plastik. Die beiden kehren in ihr Zimmer zurück und quetschen sich auf die unterste Matratze des dreistöckigen Hochbetts[22]. Sie bricht eine Ecke des Brots ab und reicht sie ihrem Sohn, dessen kleine Hände gierig danach greifen. Sie sieht ihm zu, wie er das ganze Stück in den Mund stopft und streichelt ihm über den Kopf. «Ich verspreche dir, irgendwann können wir Deutsch lernen, Schweizer*innen kennenlernen und eine Zukunft für dich bauen»[23], flüstert sie in sein Ohr und schaut weg, damit der Kleine ihre Tränen nicht sieht.
Anmerkung: Ich möchte mir niemals anmassen, mich in die Lage der Frau* versetzen zu können. Ich habe mich für diese Form von Text entschieden, da meine Absicht war, für Empathie zu sorgen, weil ich glaube, dass ich mit einer rationalen Darstellung nicht denselben Effekt erzielen könnte. Der Text ist zusammengesetzt aus verschiedenen Berichten und Interviews zu den Zuständen in Asylzentren und aus Gesprächen über persönliche Erfahrungen von Asylsuchenden, die ich teilweise selbst geführt habe.
Leonie Traber
Vorstandsmitglied JUSO Kanton Zürich und Co-Leitung AG Migration
[1] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/im-adliswil-teilen-sich-100-personen-eine-kueche/story/14917784
[2] https://www.woz.ch/-83e1
[3] Die Beschreibungen der NUK entnahm ich diesem Video: https://solinetz-zh.ch/projekte/besuche-notunterkuenfte/
[4] https://solinetz-zh.ch/projekte/besuche-notunterkuenfte/
[5] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/im-adliswil-teilen-sich-100-personen-eine-kueche/story/14917784
[6] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/im-adliswil-teilen-sich-100-personen-eine-kueche/story/14917784
[7] https://wo-unrecht-zu-recht-wird.ch/de/Hintergrund/Repression-
[8] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/im-adliswil-teilen-sich-100-personen-eine-kueche/story/14917784
[9] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/im-adliswil-teilen-sich-100-personen-eine-kueche/story/14917784
[10] https://www.tagesanzeiger.ch/aerzte-kritisieren-lage-in-notunterkuenften-als-katastrophal-124242889094
[11] https://www.tagesanzeiger.ch/aerzte-kritisieren-lage-in-notunterkuenften-als-katastrophal-124242889094
[12] https://solinetz-zh.ch/projekte/besuche-notunterkuenfte/
[13] https://www.tagesanzeiger.ch/aerzte-kritisieren-lage-in-notunterkuenften-als-katastrophal-124242889094
[14] Fiktiver Name
[15] Mohameds Geschichte ist eine wahre Begebenheit. https://www.pszeitung.ch/leiden-der-vergessenen/
[16] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/im-adliswil-teilen-sich-100-personen-eine-kueche/story/14917784
[17] https://solinetz-zh.ch/projekte/besuche-notunterkuenfte/
[18] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/ich-darf-nicht-einmal-gratis-und-freiwillig-arbeiten/story/19964476?fbclid=IwAR2veftUIHRua1UOyFL9ZfFzyYzbNUBiCtM4ghtt54arpJUaQK3W_EbYmGo
[19] https://stadtfilter.ch/wenn-ich-die-nacht-kommt-denk-ich-an-all-die-sachen/
[20] https://www.pszeitung.ch/leiden-der-vergessenen/
[21] https://www.ncbi.ch/wp-content/uploads/Bericht-Hearing-Abgewiesene-20200210.pdf
[22] https://solinetz-zh.ch/projekte/besuche-notunterkuenfte/
[23] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/ich-darf-nicht-einmal-gratis-und-freiwillig-arbeiten/story/19964476?fbclid=IwAR2veftUIHRua1UOyFL9ZfFzyYzbNUBiCtM4ghtt54arpJUaQK3W_EbYmGo
19.04.2020
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Leonie Traber