Das ist kein Liebesbrief.
Du lässt mich ein wenig verzweifeln. Wenn ich nach wie vor an dich glaube, an das Gute in uns allen und an die Gerechtigkeit, die am Ende siegen soll, kurz bevor der Abspann über den Bildschirm flimmert, nennt man mich Träumerin.
Ich bin gerne Träumerin, baue gern Luftschlösser, glaube gern an ein besseres Morgen. Ich stelle gern die Frage «Was wäre wenn...» und komme damit klar, dass wir die Antwort darauf nie finden werden.
Aber manchmal bin ich auch deprimiert. Manchmal wütend. Ich möchte resignieren, möchte stumpf werden.
Aber ich weigere mich zu akzeptieren, dass da nur Geburt und Tod sein soll und dazwischen eine Ansammlung von Momenten; Situationen, in denen ich Entscheidungen treffe, mit denen ich als Mensch glücklich oder unzufrieden bin. Und ich schließlich aus dem Leben scheide, da nur noch Schwärze ist, ein Nichts. Dass wir alle diese Zeitspanne haben, in der wir Gutes verrichten können. Und dann sterben, mit dem Wissen, nicht mehr als die Hälfte eines Staubkorns im Universum gewesen zu sein. Dass unser Echo gerade mal unsere Generation anhält, die Geschichte sich ständig wiederholt, und wir jeden Fortschritt bis aufs Blut verteidigen müssen.
Meilensteine in unserer Geschichte sind unsicher. Sie sind angreifbar. Das Recht auf Abtreibung, dass Frauen wählen gehen dürfen, das Recht auf freie Meinungsäusserung, das Ende der Sklaverei. Das Fundament, auf dem wir als Jungpartei in der Schweiz nun politisieren. Das ist nicht selbstverständlich. Es wurde nicht aufgebaut, weil Menschen leise waren und resignierten und abstumpften.
Sie haben an dich geglaubt, liebe Utopie, an einen weitentfernten Morgen, an dem ihre Kindeskinder aufstehen und nicht mehr bespuckt werden, weil sie mit der falschen Hautfarbe im falschen Teil des Buses sitzen. Dass ein Mädchen im Glauben aufwachsen kann, alles sein zu können. Dass es sich nicht davor fürchten muss, eines Tages in einem Hinterhof mit dreckigem Besteck eine Abtreibung durchführen zu müssen, weil sie sonst keinen Zugang dazu hat.
Liebe Utopie, du bist da, wenn diesem Mädchen klar wird, dass es eben doch nicht alles werden kann. Dass es nach wie vor Spielregeln gibt, nach denen wir uns zu richten gezwungen sind. Sogar wenn dieses Mädchen die Ausnahme ist, bestätigt es dabei die Regel. Du bist da, liebe Utopie, du versprichst, dass sich das ändern kann.
Was wäre, wenn ich einer Frau ganz offen romantische Zuneigung zeigen könnte? Kann ich heute, aber ich muss damit rechnen, dass jemand ganz und gar nicht damit einverstanden ist. Ich muss damit rechnen, dass mich irgendjemand auf der Strasse schräg ansieht und sich seine Gedanken macht. Dass das widernatürlich ist, was ich fühle. Oder dass dieser Jemand so sehr nicht damit klarkommt, wenn ich sie küsse, dass es gefährlich wird. Es kann passieren, dass man mir zuruft, ich solle es doch mal mit einem Mann versuchen. Dass böse Worte zu Gewalt werden.
Du bist heimtückisch. Oscar Wilde hat mal gesagt, dass du eine Insel bist, die es zu erreichen gilt. Und wenn wir dann endlich bei dir angelangt sind, bist du bereits wieder am Horizont verschwunden und wir müssen unsere Segel erneut setzen, um dich einzufangen.
Du wirst also nie der Ist-Zustand werden. Du bist etwas, das sich ständig weiterentwickelt, sich unseren Vorstellungen anpasst. Und du siehst für alle anders aus.
Wenn ich mir dich vorstelle, bist du frei von Homophobie, Konkurrenzdruck und Rassismus. Du bist keine Klassengesellschaft. Wir sind alle frei, uns so zu entfalten, wie wir das wollen. Wir wachsen auf, ohne den Druck, ständig irgendwo reinpassen zu müssen, ohne uns so zu verformen, dass unser Selbst dabei verloren geht.
Für mich, liebe Utopie, bist du fliessend. Du wirst auf immer Traum und Wolkenschloss bleiben. Und wenn wir dich erreicht haben, genauso, wie ich mir dich vorstelle, wirst du mit einem Lächeln winken, mit dem Versprechen, dass wir uns wiedersehen. In einer anderen Form.
Vielleicht ist es doch ein wenig Liebesbrief geworden. Eine Ode an dich, an unsere Vorstellungskraft. Aber auch an unser Schaffen, das mich im Wissen bestätigt, dir stets ein Stück näherzukommen. Mit jeder Frau, die sich und ihren Körper so feiert, wie sie ist. Auf Konventionen scheisst und auf das Patriarchat. Mit einem Frauenstreik, der eine halbe Million Leute auf die Strasse geholt hat, mit Klimastreikenden, die protestieren gegen herrschende Mächte und für eine Umwelt, die nicht länger zerstört wird, sondern im Einklang mit uns Menschen existiert. Schlussendlich sind auch wir ein Teil dieser Umwelt und auf ihre Gesundheit angewiesen.
Das alles ist ein Vorgeschmack, auf die Zukunft, die wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht ausdenken können. Und ich weiss, es wird gross. Und bunt und toll.
Liebe Utopie, du wirst immer da sein, um uns dazu anzuspornen grösser zu träumen, heftiger zu rebellieren, mehr zu wagen.
Es wird sich lohnen.
Lilli Wiesmann
Vorstandsmitglied JUSO Kanton Zürich
01.05.2020
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Lilli Rose Wiesmann