13.05.2016
#NuitDebout
Hoffnungsschimmer der Jugend & Abrechnung mit der etablierten Linken
Blogbeitrag von Diego Gehrig, Vorstandsmitglied JUSO Kanton Zürich
Ein Hauch von 68 liegt in der Luft. Seit dem 31.März besetzen in Frankreich Zehntausende Menschen dutzende Plätze und formen ihre eigene Demokratie. Die heterogene Bewegung nennt sich #NuitDebout und wird massgeblich von der Jugend getragen. Nun dehnt sie sich am Sonntag international aus.
Auf das vergangene Wochenende lud die Commission Internationale AktivistInnen und Interessierte aus aller Welt ein, um sich global zu vernetzen und den internationalen Gang im grossen Stil vorzubereiten. An diesem Treffen in Paris habe ich teilgenommen und will euch nun von der Bewegung berichten, da die deutschsprachige Berichterstattung mehr nur als nur zu wünschen übrig lässt.
In den meisten Medien und ihren Communities wird NuitDebout gerne als Haufen verwöhnter Jugendlicher dargestellt, der eigentliche keine Probleme kennt und sich sowieso bloss durch einen Socialmedia-Hype gefunden hat. Hinzu kommt natürlich noch das übliche Klischee, dass sich die AktivistInnen nonstop mit der Polizei prügeln wollen. Die physische Übermacht der Polizei selbst zu spüren zu bekommen, war schliesslich schon immer der Traum des ach so apolitischen Jugendlichen.
Naja, so ziemlich das Gegenteil trifft zu.
Begonnen hat alles mit der Reform des code du travail. Die umstrittene Reform, die der Bevölkerung einen schlechteren Kündigungsschutz und tiefere Löhne bei längeren Arbeitszeiten verspricht, sorgte zu Beginn für verhältnismässig geringen Widerstand. Anfang März setzten jedoch die ersten grösseren nationalen Demonstrationen ein, aus denen sich später, Ende Monats, NuitDebout entwickeln sollte. Die Reform brachte das Fass letztendlich bloss noch zum Überlaufen.
Bereits Ende Februar trafen sich einige AktivistInnen, um den Film „Merci patron!“ von Francois Ruffin vor dem Pariser Arbeitsamt gemeinsam zu schauen. Der Film kritisiert unsere profitorientierte Welt auf offenbar anregende Weise. Denn später am Abend kam die Gruppe zum Schluss, dass Platzbesetzungen im Stile der Bewegung der Spanischen 15M nötig wären.
Am 31. März und in den folgenden Tagen, nach einer weiteren Demonstration, besetzten schliesslich tausende DemonstrantInnen dutzende Plätze, allen voran das symbolische Zentrum der dezentralen Bewegung, den Place de la République in Paris. Sie besetzten die Plätze, diskutierten, demonstrierten und blieben wach. NuitDebout war geboren – So viel zur groben Vorgeschichte.
Seit dem 31. März kennt Frankreich nun also eine neue Zeitrechnung. Der März endet nicht mehr und mit ihm auch der politische Frühling nicht, der sich zusehends abzeichnet. Denn NuitDebout steht nicht alleine. Die unterschiedlichsten sozialen Bewegungen der letzten Jahre ziehen heute mit. Spanien durfte 2011/12 Erfahrungen mit einer ähnlichen Bewegung machen, den Indignados oder 15M-Bewegung, Griechenland mit der Besetzung des Syntagma-Platzes und die USA zeitgleich mit diversen anderen Staaten mit der Occupy-Wall-Street-Bewegung.
Sie alle hinterliessen Spuren. 15M legte die Grundlage für den ruckartigen Aufstieg der kritisch-linken Partei Podemos, die Syntagma-Besetzer für die kapitalismuskritische Syriza und die OCW mit ihrer 99 vs. 1%-Rhetorik jene für den demokratischen Sozialisten Bernie Sanders. All jene Basisbewegungen sind heute untereinander vernetzt und bieten eine internationale Basis für NuitDebout.
Dementsprechend lernten die französischen BesetzerInnen auch aus den Erfolgen und Fehlern, an denen die vorhergehenden Bewegungen zum Erliegen kamen oder sie zumindest in die Stagnation fallen liessen. NuitDebout lehnt heute beispielsweise jegliche Form der personellen und organisatorischen Repräsentation ab, abgesehen von sich selbst in seiner Gesamtheit.
Auch übernahm man nach dem Spanischen Vorbild der Asamblea eine Versammlungsform, die zum einen eine enorme Heterogenität in Umsetzungs- und Detailfragen zulässt, zum anderen in Grundsatzfragen den Diskurs bis zum Konsens fördert. Mit Hilfe der gewaltfreien Kommunikation wird wiederum versucht jene Heterogenität in produktive Diskussionen umzuwandeln und letztendlich den eigenen Idealen auch kommunikativ gerecht zu werden.
Die letztendlich entscheidenden Unterschiede zu den verblassten Bewegungen von 2011 bilden
meiner Meinung nach jedoch zwei andere Aspekte.
Erstens gelang es der Bewegung, sich innert kürzester Zeit zu einer internationalen Bewegung, bzw. einem internationalen Hoffnungsschimmer zu entwickeln. Dies gelang ihr – neben der inzwischen vorhandenen Vernetzung – durch ihre Mystifizierung in Anlehnung an die 68er und die Französischen Revolution.
Eine solche scheint speziell in den ersten Momenten der Internationalisierung wichtig zu sein. Denn sie macht den Menschen den nötigen Mut, über systemisch Veränderungen nachzudenken, ohne einem konkreten politischen Desaster wie der Reform des code du travail ausgesetzt zu sein. Eine solche Mystifizierung reproduziert sich glücklicherweise mit den einzelnen Erfolgen auch zunehmend selbst und trägt so dazu bei, nicht länger Mythos zu bleiben.
Zweitens beschränkt sich die Bewegung nicht nur auf das Thema der Finanzpolitik, wie es die anderen Bewegungen (primär) taten. Das ganze Wirtschaftssystem samt seinen neuen Freihandelsabkommen wie TTIP, TISA etc. zum einen, aber eben auch die globale Ausbeutung, die staatliche Repression inkl. War on Drugs, die bürgerlich-konservative Moral und ihre Sozialisation, die Zerstörung unserer Umwelt, die Kriegstreiberei und vor allem der Nationalismus und der vertuschte Krieg gegen die Flüchtlinge, werden radikal kritisiert. So „tagen“ auf dem Place de la République an einigen Tagen mehr als 50 Commissionen zu den unterschiedlichsten Themen. Die Breite ist so immens und die Tiefe so individuell wie fast nirgends.
Als Gegenpol zum aktuell aufkeimenden Nationalismus traut sich die Bewegung somit als eine der wenigen, die Notwendigkeit des Internationalismus anzusprechen – und bündelt so mit dem Thema entgegen jeglicher Erwartung der hoffnungslosen etablierten Linken gar auf internationaler Ebene die unterschiedlichste Gesellschaftsgruppen.
Diese Themenvielfalt wird jedoch weniger mit Hilfe der klassisch-linken Rhetorik des Klassenkampfs, sondern viel eher aus der Perspektive der antiautoritären Radikaldemokratie und der Gleichheit als Grundlage für die gesellschaftliche und individuelle Freiheit beleuchtet.
Dabei fallen die Rhetorik, bzw. die einzelnen Wortmeldungen so heterogen wie die Bewegung selbst aus. Von der wutentbrannten Polemik über die besorgte Stimme bis hin zur differenzierten Analyse findet sich alles wieder – erneut abgesehen von der in Demut verfallenen Rhetorik der etablierten Linken. Was auch nötig scheint, um eine sich polarisierende heterogene Gesellschaft zu erreichen. Nur an Radikalität im Sinne der Forderung nach massiver Veränderungen mangelt es in kaum einem der Voten.
Natürlich kommt zu all diesen Punkten ein wesentlicher hinzu, der gerne vergessen wird und den linken Grossparteien seit Jahrzehnten mindestens genauso fehlt wie die radikale Systemkritik und eine brauchbare Rhetorik:
Es ist spannend dabei zu sein! Man sitzt nicht über Stunden in einem Saal und erreicht eigentlich nichts, sondern diskutiert im Freien – je nach Lust und Laune – zu einem „FalafelDebout“, Bier oder Joint. Im Hintergrund hört man eine improvisierte Band spielen, Skater fahren oder Sprayer sich den Platz auch optisch zu eigen zu machen. Man redet also nicht nur über radikale Veränderungen, sondern lebt sie auch. Es ist eine radikale Kultivierung einer radikalen Kritik und das ausnahmsweise ohne hohe Einstiegshürden wie einer Mitgliedschaft.
Die Polizei scheint derweilen übrigens begriffen zu haben, dass sie all dies nicht verhindern kann. Die anwesenden Polizisten wollen es zum Teil vielleicht auch gar nicht mehr wirklich. Hin und wieder durfte man sich nämlich am Anblick eines verlegenen Polizisten erfreuen, der zur Musik nickt oder heimlich einen „FalafelDebout“ isst. Die Menschen auf dem Platz wiederum ignorieren die Polizei inzwischen grösstenteils.
Konfrontationen werden von keiner der beiden Seiten gesucht, auch wenn sich einzelne BesetzerInnen oder Polizeiangehörige natürlich immer wieder gerne gegenseitig provozieren – der Kontraproduktivität solcher Aktionen ganz zum Trotz.
Denn auch NuitDebout ist nicht vollkommen. Der Bewegung fehlt es noch an vielem, um zu mehr als nur einer einflussreichen aber genauso kurzlebigen Jugend-Bewegung zu werden. So will und will sie nicht Fuss fassen in der „Unterschicht“ und den Pariser Banlieues. Man versucht es zwar, doch die Kluft der Lebensrealitäten gelingt es bisher nicht zu überwinden. Die Jugend des klassischen Mittelstands bildet die Basis der Bewegung.
Auch wird es NuitDebout – wie allen anderen radikalen Systemkritikern – wohl kaum gelingen die aktuell hegemonialen Vorstellungen nachhaltig zu durchbrechen ohne konkretere ideelle und realpolitische Alternativen zu liefern, die die Hegemonie mittelfristig und langfristig ersetzen könnten.
So scheint NuitDebout bisher eben doch nur potentielle Lösung und mindestens bezüglich jener Probleme kaum weiter als der Rest der traditionellen Linken zu sein. Bleibt zu hoffen, dass die einzelnen Kommissionen schneller an Alternativen arbeiten, als man es ihnen beim besten Willen zutrauen möchte, und dass es am Mut mögliche Alternativen zu kreieren und auszusprechen nicht mangelt.
Nun; was aus NuitDebout, bzw. #GlobalDebout noch wird und was die Bewegung noch alles hervorbringt, lässt sich deshalb nicht einmal kurzfristig erkennen. Potential hat sie auf jeden Fall.
Der hie und da vorsichtig ausgesprochene Gedanke, #GlobalDebout als internationale Bewegung könnte gar die 68er in den Schatten stellen, ist zwar sehr optimistisch, aber sicherlich nicht gänzlich unbegründet. Genauso könnte die Bewegung aber bereits Ende Monat im Nirwana der sozialen Bewegungen verschwunden sein. Zu hoffen wäre auf eine europäische Bewegung und/oder neue Form von Partei, die sich traut Kritik zu üben und vor allem auch Alternativen vorzuschlagen. Spuren wird die Bewegung nämlich wie ihre Vorgänger in jedem Fall hinterlassen – nur eben mit etwas Glück auf gesamteuropäischer Ebene.
Ich korrigiere: Mit etwas Engagement, nicht Glück.
Am Sonntag, dem 75.März (15.05) dehnt sich die Bewegung nun erst einmal gezielt international auf hunderte Städte aus – darunter auch auf Genf, Basel und Zürich. Wer weiss, vielleicht bleibt auch der Bürkliplatz auf unbestimmte Zeit besetzt und die Schweiz darf im besten Fall einen unerwarteten Gegentrend zum Rechtsrutsch der vergangenen 20 Jahre erleben.
Wer weiss...
[caption id="attachment_1160" align="alignnone" width="1070"] #GlobalDebout[/caption]
Mehr brauchbare Infos zu NuitDebout/GlobalDebout und allem drum herum findet ihr sonst noch hier:
Die Facebook-Seite von GlobalDebout:
https://www.facebook.com/GlobalDebout/
Die Website von GlobalDebout:
https://nuitdebout.fr/globaldebout/de/
Der Facebook-Event zur Zürcher GlobalDebout:
https://www.facebook.com/events/171939929870175/
Der englische Wiki-Artikel zur Bewegung (unglaublich viel besser als der deutsche):
https://en.wikipedia.org/wiki/Nuit_debout
Ein umfassender Bericht über die Entstehung und Art der Bewegung:
Occupy auf Französisch, Im LeMonde diplomatique vom Mai 2016
Eindrücke von der Bewegung:
https://www.woz.ch/1619/nuit-debout-in-frankreich/aufruf-gegen-die-globale-ohnmacht
Die Geschichte der Vorgänger-Bewegungen und ihre Erfolge:
http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-04/paris-nuit-debout-bewegung-demonstrationen-place-de-la-republique
Die Situation der europäischen Linken im Allgemeinen:
http://www.zeit.de/2016/20/gerechtigkeit-die-linke-solidaritaet-armut-humanismus-realpolitik