Was passiert in Polen und warum kämpft die JUSO mit?

13.11.2020 - Mia Jenni

2016 versammelte sich mitten in Zürich eine Masse an schwarz gekleideten Menschen. Die Mehrheit von ihnen waren Frauen mit polnischem Migrationshintergrund. Viele von ihnen trugen schwarze Regenschirme bei sich, einige hielten Kleiderbügel in der Hand. Es war die Zeit des «Czarny Protest» (Schwarzer Protest), der in ganz Europa stattfand. Allen voran in Polen, gingen die Menschen auf die Strasse und wehrten sich gegen das immer weiter verschärfte Abtreibungsgesetz in ihrem Land. Die rechts-konservative Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, dt: Recht und Gerechtigkeit) bestrebte nämlich eine Initiative zu unterstützen, die ein Verbot aller Abtreibungen verlangte, ausser die Geburt gefährde das Leben der schwangeren Person oder der Fötus sei mit einer schweren Behinderung diagnostiziert.

Allen Protestierenden war klar: Werden Abtreibungen immer weiter eingeschränkt, wird es nicht weniger davon geben. Sie würden einfach nicht mehr im sanitären Rahmen eines Spitals durchgeführt werden, sondern zu Hause mit rudimentären Mitteln wie einem Kleiderbügel, der den Fötus aus dem Leib der schwangeren Person reisst. Das ist ebenso traumatisierend, wie lebensgefährdend.

Der Czarny Protest und eine Petition mit über 400'000 Unterschriften zeigten seine Wirkung. Die Verschärfung des ohnehin schon strengen Abtreibungsgesetzes wurde am 6. Oktober 2016 im polnischen Parlament abgelehnt. Die Massen auf den Strassen hatten einen Teilsieg errungen.

Was folgte, waren nicht etwa Jahre der Ruhe für die polnischen Frauen, sondern Angriffe um Angriffe auf die Selbstbestimmung ihrer Körper. Immer wieder versuchte die PiS Abtreibungen quasi zu verbieten, immer wieder gingen tausende Pol*innen auf die Strasse und boten dem Rechtskonservatismus die Stirn.

Am 22. Oktober 2020 verschärfte sich die Lage um eine neue Dimension. Die Präsidentin des Verfassungsgerichtes und PiS-Parteimitglied Julia Przylebska verkündete, dass Schwangerschaftsabbrüche trotz schwerer Missbildungen des Fötus verfassungswidrig seien. Dieses Urteil der höchsten juristischen Instanz des Landes, welches de facto 97% der 2019 durchgeführten Abtreibungen in Polen als illegal einstufen würde, sorgte für eine erneute, massive Protestwelle in ganz Europa.

Die offensichtliche Vermischung der Staatsgewalten (Przylebska gilt als enge Vertraute des PiS-Parteichefs Jarosław Kaczyński), sowie die Verordnung, dass Schwangere selbst bereits tote Föten noch austragen müssten, sorgten für die grössten Proteste in Polen seit dem Ende des Kalten Krieges. Alleine in Warschau protestierten 100'000 Menschen und am Mittwoch, dem 28. Oktober, streikten die Polinnen. Wiederum wurde der Protest von feministischen Bewegungen rund um den Globus unterstützt, u.a. auch von der JUSO Schweiz. Die Pol*innen haben genug davon, dass Rechtskonservative über ihre Bäuche bestimmen.

Wir FINTs[1] haben genug davon, dass jemand über unsere Körper bestimmen möchte. Niemand ausser uns selbst soll darüber entscheiden dürfen, ob, wann und wie wir schwanger sind, welche Kleidungsstücke wir tragen dürfen, welche Körperformen wir haben und welche Beziehungen wir führen dürfen. Sei es in Polen, sei es in Spanien, sei es in den USA oder in der Schweiz.

Denn der Fremd-Anspruch auf die Körper von FINTs hat System. Es hat nichts mit Gutmenschentum zu tun, wenn man(n) Abtreibungen verhindern möchte. Es geht nicht um das Retten von Leben und Föten mit Fingernägeln, es geht um die Einreihung von reproduktiven Körpern in ein höchst patriarchales und kapitalistisches System. Es geht darum, einen der mächtigsten Wirtschaftsfaktoren unserer kapitalistischen Gesellschaft zu beherrschen: Die Reproduktion.

Wir FINTs sollen mit unseren Reproduktionsorganen möglichst viele, gute Arbeitskräfte schaffen. Wir sollen die Kinder gratis aufziehen, uns dadurch ausbeuten lassen und dann die Zöglinge in den Arbeitsmarkt einreihen, damit sie Umsatz und Mehrwert generieren. Dabei soll alles möglichst geregelt und unhinterfragt ablaufen: Liebe, Heirat, Kinder, gratis Care-Arbeit. Alles möglichst so, dass wir wie geölte Rädchen in einer Maschine funktionieren und Mehrwert für die reichsten 1% generieren. Und wenn gesetzlich nichts mehr anderes möglich ist, dann ist es natürlich einfacher diese Gesellschaftsvorstellung weiter zu betreiben.

Mit einem Abtreibungsverbot werden FINTs gewaltvoll dazu gezwungen, sich diesem System unterzuordnen. Gewaltvoll, weil nicht wenige Schwangerschaften körperliche und psychische Traumata mit sich bringen und Menschen in gefährliche Abhängigkeiten oder Armut stürzen. Dies erklärt auch, warum es immer wieder, auch in Ländern wo Abtreibungen seit Längerem als normal gelten, Bestrebungen gibt, diese zu verbieten. Der patriarchale Kapitalismus arbeitet mit Hochtouren daran, unsere Errungenschaften rückgängig zu machen und uns noch weiter gewaltvoll in die Maschinerie für die 1% reinzupressen.

Und gerade deshalb ist es wichtig, dass wir für die Alternative ohne Ausbeutung kämpfen. Für die Gesellschaft ausserhalb des Patriarchats und des Kapitalismus, die nicht dem 1%, sondern den 99% dient und Menschen statt Profite in den Mittelpunkt stellt. Gerade deshalb ist der Kampf für ein Recht auf Abtreibungen, für Sexualitäten, Identitäten und Körper ausserhalb der Normen, der Kampf für die Freiheit aller antikapitalistisch. Deshalb kämpft die JUSO.

Die Massenproteste in Polen Ende Oktober konnten einen Etappensieg erringen: Die Einführung des Gesetzes wurde vertagt. Doch damit ist der Kampf leider noch lange nicht zu Ende; aufgeschoben heisst nicht aufgehoben. Die Proteste müssen laut bleiben, bis das Gesetz beerdigt ist, sonst wird es durch ein Hintertürchen doch noch in Kraft treten.

Die Pol*innen kämpfen weiter – wir ziehen mit.


[1] FINT: Frauen, Intersexuelle, Non-Binäre und trans Menschen