Wenn Mensch nicht gleich Mensch ist

„Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“, lässt eines der wohl heiligsten Sakramente, auf welches in politischen Debatten so oft geschworen wird, verlauten: die schweizerische Bundesverfassung. Sie verkörpere unsere Werte und Traditionen, wird so oft patriotisch gezetert, der Leitfaden echtschweizerischen Handelns. Begleitet werden jene lautstarken Worte von einem stolzen Klopfer auf die eigene Schulter.
Die Corona-Krise belehrt uns bis anhin jedoch eines Neuen. Denn jene selbstproklamierten Werte scheinen in bewegten Zeiten wie dieser lieblos unter den Tisch gefegt und ohne Beachtung liegengelassen zu werden. Aus dem Bestreben nach Freiheit, Demokratie und Solidarität, die Sicherheit aller, und die gegenseitige Rücksichtnahme, wie es in der Präambel der Bundesverfassung heisst, macht sich dann offenbar kaum noch jemand etwas. In Krisenzeiten werden die Mauern der eigenen vier Wände hochgezogen und es wird mit Privilegien jongliert. Plötzlich schaut es so aus, als beschränke sich der Wertekatalog nur noch auf bestimmte in der Schweiz ansässige Individuen. Oder tritt viel eher die angestrengt vertuschte Definition dessen, wer sich zur schweizerischen Gesellschaft zählen darf, mit hässlicher Fratze aus dem Schatten des heuchlerischen Eigenlobs, und entlarvt, dass manche Menschen gar nie dazugehört haben?
Seit Beginn der Krise gerieten Betroffene des schweizerischen Asylwesens in Vergessenheit, und zwar mehr, als ohnehin schon. Während die Privilegiertesten hierzulande die Krise, von der Veranda des Ferienhauses, mit einem Glas Weisswein in der Hand und Blick auf den See, als erfrischend, gar als Entschleunigung abtun, sitzen Asylsuchende zusammengepfercht auf engstem Raum und sind dem Corona-Virus schutzlos ausgeliefert. Das Recht der Flüchtenden auf Schutz für die „Dauer einer schweren allgemeinen Gefährdung“, wie es der Artikel 4 des schweizerischen Asylgesetzes vorsieht, rückt in den Hintergrund und offenbart die Gleichgültigkeit, die diesbezüglich an den Tag gelegt wird. Wenn wir den Asylsuchenden davor bereits den Eindruck vermittelt haben, sie hier nicht willkommen zu heissen, so treten wir sie und ihre Rechte momentan mit blossen Füssen.
Seit am 16. März 2020 die „ausserordentliche Lage“ gemäss Epidemiengesetz vom Bund verhängt wurde, steht die Schweiz still. Nur Betriebe und Tätigkeiten von grosser Dringlichkeit werden weitergeführt – hierzu gehören allem Anschein nach auch die Asylverfahren. Ob aus Gutwilligkeit, die Asylsuchenden nicht länger warten zu lassen, als sie eh schon tun oder aus dem Bestreben heraus, sie schneller loszuwerden, sei dahingestellt. Was jedoch auf gar keinen Fall kommentarlos dahingestellt werden darf, ist, dass die Corona-Massnahmen, die der Bund im Asylwesen ergriffen hat, nicht angemessen angewendet werden. De facto schränken sie das Recht auf Asyl erheblich ein, sodass Asylsuchende nun noch schlechtere Karten haben, einen positiven Entscheid zu erhalten.
Wenn zum jetzigen Zeitpunkt das Schreiben mit einem negativen Asylentscheid eintrifft, ist die Anfechtung jenes Beschlusses für die betroffenen Personen mit einer Vielzahl an Schwierigkeiten verbunden, die davor nicht bewältigt werden mussten. Sämtliche unabhängige Rechtsberatungsstellen haben seit Mitte März ihr Angebot weitgehend minimiert oder sogar gänzlich ausgesetzt, was dazu führt, dass Asylsuchende von einem Tag auf den anderen, mit weniger Rechtsschutz dastehen. Einzig auf den unentgeltlichen, staatlichen Rechtsbeistand können sie nun für die Asylgesetzrevision zurückgreifen. Notfalls laufen die Asylverfahren auch ohne Rechtsvertretung weiter, verkündete Justizministerin Karin Keller-Sutter vor einigen Tagen[1]. Dies stellt die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens an sich in Frage und negiert Flüchtenden die per Gesetz verbrieften Rechte. Wenn in bewegten Zeiten von einer Elite darüber entschieden wird, welche Menschen schützenswerter als andere sind, so balanciert die Würde des Menschen auf wackeligen Stützpfeilern.
Ebenfalls äusserst problematisch ist, dass zwischenzeitlich die Grenzen für Asylsuchende dicht gemacht wurden. Seit dem 13. März, als Bundesrätin Keller-Sutter kundgab, Asylsuchende könnten ihr Gesuch problemlos in Italien stellen und müssten dazu nicht die schweizerische Grenze überqueren, wird Menschen, die in der Schweiz Asyl ersuchen wollen, systematisch die Einreise verweigert.[2] Gerechtfertigt wird jene Einreiseverweigerung durch die vom Staat auferlegte Coronavirus-Verordnung. Heikel ist dies insofern, als dass völkerrechtlich klar erfasst ist, dass Asylsuchende, die an einer Landesgrenze äussern, gerne Asyl in dem Staat zu ersuchen, nicht abgewiesen werden dürfen. Sie haben Anspruch darauf, sich mindestens bis Abschluss des Asylverfahrens innerhalb der Landesgrenze aufzuhalten, beziehungsweise bis durch den Vollzug eines Dublin-Verfahrens feststeht, welches Land dafür zuständig ist, der Person Asyl zu gewähren.[3] Keine vom Staat selbstauferlegte Verordnung der Welt sollte dazu imstande sein, Völkerrecht ausser Kraft zu setzen.
In Rekordschnelle veranlasste die Pandemie dazu, die Mauern der Festung Europa um ein Vielfaches in die Höhe schnellen zu lassen, während sich an den tiefen Gräben davor undenkbare Bilder ergeben. Die verzweifelten Hilferufe lassen wir mit einem Knopfdruck auf der Fernbedienung des Fernsehers verschwinden, kurz bevor sich kriechend Schuldgefühle in uns breit machen können. Und den Kummer jener, die einst mühselig ein Schlupfloch in die Festung gegraben haben und nun unter uns leben, ersticken wir mühevoll mit den Feindbildern, die wir geschaffen haben, um die Tritte nach unten zu rechtfertigen, um uns davon zu überzeugen, sie wären nicht genauso Mensch wie wir. Dabei sollte Solidarität jetzt mehr denn je auf der Tagesordnung stehen, und zwar nicht ausschliesslich unter solchen, die es geschafft haben, die schweizerische Grenze zu passieren. Wir müssen über die Grenzen in unseren Köpfen hinwegdenken, sie endlich ein für alle Mal niederreissen und gleich anschliessend den Abbau der Festung Europa einläuten.
„Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“. Jene Phrase verkörpert, gerade in prekären Zeiten wie dieser, und in Anbetracht der politischen Taten im Asylwesen, nichts weiter als ein Schaubild europäischer Gleichgültigkeit, Überheblichkeit und höhnischer Doppelmoral. Sollte es der Aufrichtigkeit halber nicht eher „gewiss, dass frei nur ist, wem Freiheit zugesprochen wird, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Privilegierten“, verlauten, werte Eidgenoss*innen?
Fabiana Merz Enriquez
Co-Leitung AG Migration JUSO Kanton Zürich
[1] https://www.woz.ch/2015/asylpolitik/ausgeliefert-im-bunker, Abruf am 14. April 2020
[2] https://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/reden---interviews/reden/2020/2020-03-13.html, Abruf am 14. April 2020
[3] https://www.srf.ch/news/schweiz/asylrecht-in-der-coronakrise-ist-das-vorgehen-der-schweiz-rechtens, Abruf am 14. April 2020