Wenn Überwachung unter die Haut geht

Social Distancing = Communism. Dies war auf dem Pappschild einer Frau zu lesen, welche in den USA gegen Ausgangssperre und andere Sicherheitsvorkehrungen im Zusammenhang mit Covid-19 protestierte. Ihr Bild ging viral. Es steht sinnbildlich für eine Gesellschaft, die gespaltener kaum sein könnte. Das Vertrauen in die Medien ist in einem Rekordtief, dasselbe gilt für die Wissenschaft. Trump soll’s recht sein. Er hatte es noch nie so einfach, seine Herzenswünsche in die Tat umzusetzen. Denn die Zeichen stehen günstig. Die Welt steht still. Die Städte sind leer, die Geschäfte geschlossen. Das neuartige Corona-Virus hat die Welt in einen Schockzustand versetzt. Und der erhöht nicht nur Trumps Chance auf eine zweite Amtszeit.
Schocks werden konsequent ausgenutzt, um neoliberale, konservative und repressive Pläne in die Tat umzusetzen. Dieses Phänomen beschreibt Naomi Klein in ihrem Werk «Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus», ausführlich an unzähligen Beispielen aus der Vergangenheit erläutert. Bei den Schocks kann es sich um militärische oder wirtschaftliche Krisen handeln, oder, wie jetzt im Falle des Corona-Virus um eine «Naturkatastrophe» (welche die andauernde wirtschaftliche Krise massiv verschärft hat). Die Massnahmen, welche zur Bekämpfung von Notsituationen eingeführt werden, fänden in Nicht-Krisenzeiten in der Regel wenig Anklang und würden Widerstand in der Bevölkerung erzeugen. Die Regierungen nutzen ihre Autorität in Krisenzeiten aus, um diese temporären Massnahmen einzuführen, welche in Ausnahmesituationen auch von der Bevölkerung mitgetragen werden. Ein Beispiel dazu sind die Grenzschliessungen, welche viele Länder weltweit zwischenzeitlich eingeführt haben. Selbst wenn gewisse Notverordnungen in Ausnahmesituationen gut und wichtig sind, die Einführung von normalerweise umstrittenen Massnahmen ziehen einige Folgen mit sich: Zum einen verändern sie die Wahrnehmung der Bevölkerung zu bestimmten Themen. So werden umstrittene Forderungen plötzlich mehrheitsfähig. Die Durchsetzung von gewissen Massnahmen kann auch ein Tabubruch sein, was die Überwindung, in der Zukunft ähnliche Schritte zu wagen, schrumpfen lässt. Zusätzlich bleiben restriktive Notverordnungen oft länger bestehen als ursprünglich angekündigt. Wenn sie dann doch wieder abgeschafft werden, dann häufig nur in einer abgeschwächten Form. Dies führt dazu, dass Fortschritte, welche von Aktivist*innen über Jahre auf der Strasse erkämpft wurden, innert kürzester Zeit wieder zunichte gemacht werden. Die Aufhebung der Umweltregulationen für Unternehmen, welche die USA Ende März eingeführt hat, um die angeschlagenen Firmen nicht «noch mehr zu belasten», zeigt dies extrem gut! Seit Jahren setzen sich konservative Politiker*innen vehement für eine Lockerung der Umweltregulationen ein und haben wenig Erfolg damit. Im Rahmen dieser Krise konnten die ganzen Regulationen ohne weiteres aufgehoben werden und es ist fraglich, wann und wie sie wieder in Kraft treten werden.
Da können wir viele Parallelen zur Entwicklung der staatlichen Überwachung feststellen, besonders entscheidend ist dabei die Entwicklung in der jetzigen Corona-Pandemie. Die staatliche Überwachung kann in demokratischen Ländern immer dann ausgeweitet werden, wenn sich die Menschen unsicher fühlen. Terroranschläge sind hierbei ein Paradebeispiel. Auch hier handelt es sich um einen grossen Schock, der Handlungsspielraum der Regierung weitet sich aus, die Bevölkerung ist plötzlich bereit, sich stärker überwachen zu lassen, um das Risiko von künftigen Anschlägen zu verringern. Dabei ist es irrelevant, dass viele Studien zeigen, dass die Ausweitung des Überwachungsapparates nur minim zur Terrorprävention beiträgt. Verschiedenste Überwachungstechnologien sind auch im Zusammenhang mit der Corona-Krise zum Einsatz gekommen, nicht wenige davon zum ersten Mal. In der Schweiz hat das Bundesamt für Gesundheit zum Beispiel die Handydaten von Swisscom-Kund*innen ausgewertet, um Schlüsse daraus zu ziehen, ob sich die Menschen an das Social Distancing halten. Es handelt sich dabei um das erste Mal, dass in der Schweiz eine staatliche Instanz auf anonymisierte Handydaten zurückgegriffen hat, um das Bevölkerungsverhalten zu kontrollieren. Dies ist noch ein milder Eingriff in die Privatsphäre verglichen mit dem, was in anderen Ländern, besonders in totalitären Staat gerade durchgeführt wird.
Das wichtigste Beispiel liefert hierfür China. Dort griff die Regierung mit dem Monitoring aller Smartphones auf sämtliche Kameras mit Gesichtserkennung zu und zwang die Menschen, ihre Körpertemperatur und ihren Gesundheitszustand zu melden. Dies erscheint auf den ersten Blick zwar kontrovers, aber zur Bekämpfung des Virus durchaus sinnvoll. Tatsächlich half es der Regierung, das Virus schnell wieder unter Kontrolle zu bringen. Angesteckte Menschen konnten schnell identifiziert und isoliert werden und über ihre Standortdaten konnten ausserdem noch sämtliche andere potenziellen Träger*innen identifiziert und isoliert werden. Was diesen Eingriff aber trotzdem selbst für die Chinesische Regierung zu einem Präzedenzfall macht, sind die Daten, die sie durch die Überwachung erhalten haben. Es wurden zum ersten Mal biometrische Daten im grossen Stile gesammelt. Bei den biometrischen Daten handelt es sich um Angaben über den Körper, wie zum Beispiel Körpertemperatur oder Blutdruck. Sprich die Überwachung hat sich zum ersten Mal von «über der Haut» zu «unter der Haut» erweitert.
Um die Risiken dieser Entwicklung nachzuvollziehen macht es Sinn, sich kurz einem Gedankenexperiment zu widmen, welches Yuval Noah Harari unter anderem in der NZZ vorgestellt hat: «Wer zum Beispiel weiss, dass ich auf einen Link von Fox News geklickt habe und nicht auf einen von CNN, der erfährt etwas über meine politischen Ansichten und vielleicht sogar meine persönlichen Einstellungen. Aber wer überwachen kann, was mit meiner Körpertemperatur, meinem Blutdruck und meinem Herzschlag geschieht, wenn ich das Video anschaue, der erkennt, was mich zum Lachen oder zum Weinen bringt und was mich richtig wütend macht. Wir müssen daran denken – das ist entscheidend –, dass Ärger und Freude, Liebe und Langeweile biologische Phänomene sind, wie Fieber oder Husten. Dieselbe Technologie, die Erkältungen erkennt, kann auch Gelächter erkennen. Wenn Konzerne und Regierungen unsere biometrischen Daten in Massen abgreifen, dann lernen sie uns besser kennen, als wir uns selber kennen, und sie können dann unsere Gefühle nicht nur identifizieren, sondern auch manipulieren und uns andrehen, was sie wollen, ob Produkt oder Politiker*in.»
In der Tat sind wir in der Schweiz noch weit davon entfernt, dass unsere biometrischen Daten systematisch gesammelt werden, doch müssen wir uns stets bewusst sein, dass sich die Überwachungstechnik unglaublich schnell entwickelt. Heute sind wir schockiert über den Skandal um Cambridge Analytica, gestern waren solche Methoden noch unvorstellbar und morgen werden sie bereits wieder altmodisch erscheinen. Was dabei stets das Wichtigste bleibt, ist, dass wir uns nicht in die Irre führen lassen! Ja, mit kompletter Überwachung kann man Pandemien einschränken und eliminieren. Ja, man kann mit ihr Menschenleben retten. Doch die Überwachung ist lediglich diejenige Variante, von welcher die Regierung auch am meisten profitiert. Ebenso effektiv wie die Überwachung ist nämlich die Selbstermächtigung der Bürger*innen! Das bedeutet, die Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich zu testen und sie müssen über die Entwicklungen aufrichtig aufgeklärt werden. Eine wohlinformierte Bevölkerung, welche der Regierung vertraut, schafft es, durch willige Kooperation eine Epidemie mindestens genauso gut zu bekämpfen, wie ein Überwachungsstaat. Harari formulierte dies in der NZZ: «Wir müssen kein Überwachungsregime einführen, stattdessen können wir das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft, die Behörden und die Medien wieder aufbauen; dafür ist es nicht zu spät.»
Dario Vareni
Vorstandsmitglied JUSO Kanton Zürich
Quellen: https://www.theatlantic.com/business/archive/2016/09/why-do-americans-distrust-the-media/500252/https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-yuval-noah-harari-ueber-die-welt-nach-der-pandemie-ld.1547988