WOLLEN WIR LEBEN, UM ZU ARBEITEN, ODER ARBEITEN, UM ZU LEBEN?

20.10.2019 - Nadia Kuhn

Eine Arbeitszeitverkürzung bietet Antworten auf die dringlichsten Probleme unserer Zeit: die drohende Klimakatastrophe, die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit und den rasanten Anstieg der sozialen Ungleichheit.

Unsere Gesellschaft wird immer produktiver. Maschinen nehmen uns mühselige Arbeit ab, Automatisierungen beschleunigen Prozesse, Computer erleichtern unser Leben. Die Digitalisierung ist bereits seit Jahren eine Realität. Doch in wessen Taschen fliesst der erwirtschaftete Mehrwert? Wer profitiert davon?

Die Antwort ist so eindeutig wie stossend: Im Jahr 2017 hat sich das reichste Prozent der Bevölkerung 82% des weltweiten Vermögenswachstums angeeignet. Während die Reichsten jedes Jahr mehr Kapitaleinkommen einnehmen, profitiert die grosse Mehrheit der Bevölkerung kaum von dieser Produktivitätssteigerung.

Das ist nicht gerecht: Der zusätzliche Mehrwert sollte der ganzen Gesellschaft zugutekommen – beispielsweise in Form einer radikalen Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn. Denn es kann nicht sein, dass über 55-Jährige keinen Job mehr finden, die Burnout-Rate ständig steigt und die Menschen immer gestresster sind, während die Reichen immer noch reicher werden.

Care-Arbeit gerechter verteilen

Verkürzen wir die Arbeitszeit, erhöht sich damit ganz direkt die Lebensqualität aller. Es bleibt mehr Zeit, um sich zu entspannen, mehr Zeit für Hobbys und künstlerisches

Schaffen, und mehr Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement. Ausserdem würde mit verkürzter Arbeitszeit die Gefahr von Arbeitsunfällen und körperliche Beschwerden reduziert – ganz zu schweigen von allen psychischen Krankheiten, welche durch Stress ausgelöst oder verstärkt werden.

Auch zur Gleichstellung der Geschlechter leistet eine Senkung der Arbeitszeit einen wichtigen Beitrag. Heute wird der Löwinnenanteil der unbezahlten Care-Arbeit – also das Erziehen von Kindern, die Pflege von alten und kranken Menschen, Kochen, Putzen, Waschen, und so weiter – immer noch von Frauen verrichtet. Dies führt für Frauen zu einer starken finanziellen Abhängigkeit, einer um 33% tieferen Rente im Vergleich zu Männern, und einer massiven Doppelbelastung von arbeitstätigen Frauen. Die Arbeitszeitverkürzung ermöglicht eine gerechtere Verteilung der Care-Arbeit, indem sie allen Menschen mehr Zeit für Sorgearbeit verschafft, und trägt damit entscheidend zu mehr Gleichstellung bei.

CO 2 -Emissionen reduzieren

Die Klimakatastrophe ist die dringlichste Herausforderung unserer Zeit, welche die Lebensgrundlage von hunderten Millionen Menschen zu zerstören droht. Wenn wir eine klimaneutrale Gesellschaft aufbauen wollen,

so werden wir sämtliche Aspekte unserer Gesellschaft hinterfragen müssen: Wie wir wohnen, wie wir arbeiten, wie wir uns fortbewegen und wie wir uns ernähren. Wer weniger arbeitet, verbringt auch weniger Zeit damit, unsere Umwelt durch die Produktion von Gütern zu verschmutzen: Güter, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Und vielleicht am wichtigsten: Eine Arbeitszeitreduktion würde das Wirtschaftswachstum zumindest ausbremsen. Verschiedene Studien kommen denn auch zum Schluss, dass eine Reduktion der Arbeitszeit eine Reduktion der CO2-Emissionen bewirken würde. Denn es gibt kein ewiges Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen.

Her mit dem schönen Leben!

Wir wollen eine Gesellschaft, die sich an den Bedürfnissen der Menschen und der Umwelt orientiert, nicht am Profit einiger weniger. Um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, müssen wir nicht jede Woche 42 Stunden lang «chrampfen» — das machen wir einzig für den Profit einiger weniger. Seien wir utopisch und kämpfen gemeinsam für eine radikale Arbeitszeitreduktion!